Als ich vor Jahren anfing zu unterrichten, wollte ich meine Schüler von Anfang an miteinander spielen lassen – um ihnen so früh wie möglich Praxis zu vermitteln, und weil es zusammen mehr Spaß macht als allein.
Bei der Suche nach geeigneten Stücken wurde ich aber nicht recht fündig, und so begann ich, meinen Anfängern selbst etwas für das frühe Zusammenspiel zu schreiben. Durch ihre Zustimmung ermutigt, verfasste ich in den folgenden Jahren viele kleine Stücke, vor allem Duos, aber auch Trios und Quartette, je nach Verfügbarkeit der Schüler.
Der Schwierigkeitsgrad der Stücke richtet sich in jeder einzelnen Stimme nach dem spieltechnischen Stand des jeweiligen Schülers, für den sie gedacht war. So geht es bis in die 5.Lage (in den „Alte-Zeit-Liedern“), aber es gibt auch viele Stimmen mit leeren Saiten oder nur ein bis zwei Fingern.
Musikalisch folgen diese Stücke keinem Trend, sie sind eine Mischung aus den technischen Gegebenheiten des Anfangs auf dem Cello und meinen persönlichen musikalischen Vorlieben, die ich eher „klassisch“ nennen würde – also lieber „zeitlos“ als „zeitgemäß“…
Was die Programme der Stücke anbetrifft, so stelle ich mit Erleichterung fest, dass auch sie sozusagen „zeitlos“ sind, bis auf wenige Ausnahmen: Zwar ist Tanja Tütü, das balletttanzende Nilpferdmädchen, nur noch Sammlern von Ü-Ei-Figuren ein Begriff, aber Ziegen, Glockenblumen, Eier, Enten usw. kennt man heute noch, leider auch Kaviar (igitt), Bandwürmer und traurige Menschen. Der Ranzentrolley dagegen (obwohl so heiß ersehnt von der Schülerin, für die einst das Ranzenschlepplied geschrieben wurde) ist aus dem Straßenbild rund um Grundschulen verschwunden und hat dem Roller Platz gemacht, wahrscheinlich, weil dieser viel besser als jener dazu geeignet ist, lästige andere Bürgersteigbenutzer zum Sprung in die Gosse oder ins Gebüsch zu zwingen…
Ebenso ist der in der „Kleinen Radtour“ beschriebene Opa früherer Tage, der mit Prinz-Heinrich-Mütze, knisternden Kniegelenken und ruckeligen Pedalen den von Quietsch- und Schaltgeräuschen untermalten Weg zum örtlichen Finanzinstitut antrat, nicht mehr zu vergleichen mit einem Opa heutigen Zuschnitts, der, ausgestattet mit biologischem Alter(!) und einer Rennmaschine, ganz anderen Strapazen gewachsen ist…
Der noch älteren Vergangenheit gehören Schellentänze und Schusterjungen an, wobei letztere wenigstens noch einen kleinen Bezug zur Gegenwart haben, gibt es doch in der Celloliteratur ein unverwüstliches Produkt Marke Gips-garantiert-sonst-Geld-zurück: Die sehnenscheidenmordende „Schule der Bogentechnik“ von O. Ševčík (tschechisch: Schusterjunge). Das schmerzhafte Werk dient der Ertüchtigung der rechten Hand und wäre von einem engagierten Pädagogen aus einem immer noch beliebten alten deutschen Film wohl als „nötzlich“ bezeichnet worden (gefolgt von dem weisen „Rate“, von den gefährlichen „Öbungen“ stets nur einen „wänzigen Schlock“ zu nehmen)…

Was sie jetzt wohl alle machen? Die braven und nicht so braven, aber immer lustigen Kinder, ohne die ich nie auf die Idee gekommen wäre, etwas zu „komponieren“… z.B. Shirin, deren munterem Wesen das höfliche „Sodawasserlied“ vielleicht nicht ganz gerecht wird… Vicky, die weichgekochte Eier liebte und ihr ¼-Cello „Bohne“ nannte… Dominic, der eines Tages einen grünen Schirm in der Ecke stehen hatte und ein Lied darüber haben wollte, eine Zeit lang gerne „Ritter Popelsam“ spielte und zu seinem 9.Geburtstag das „Piratenlied“ bekam… Kathi, die mit Vicky ein erfolgreiches Duo bildete und mir den Auftrag gab, aus ihrer Lieblingsstelle aus dem „Wurzeltanz“ ein neues Stück zu machen – heraus kam „Kathis Walzer“… Ihre akrobatische Beherrschung des Einrads und der flotte Fahrstil ihres Brüderchens auf dem Laufrad führten ebenso zu neuen Liedern wie die aus Altersgründen unterschiedlich kunstvollen Darbietungen der beiden Geschwister auf dem Trampolin…
Und Christian, der mit dem Cello auf den Knien verträumt die interessante Mechanik an dessen unterem Ende erforschte, bis ein dumpfes Poltern anzeigte, dass der Stachel ins Cello gefallen war – der Albtraum jedes Geigenbauers… Er, der so herzlich lachen konnte, wenn ihn sein Duopartner Karl mit dem freundlichen Wohlwollen des Älteren „hirnloser kleiner Bandwurm“ nannte (nach dem gleichnamigen Tanz)… Ihm verdanke ich die „Kleine Radtour“ und die Erkenntnis, dass zwei unternehmungslustigen Jungen die große Ähnlichkeit zwischen einem Cellobogen und einem Lichtschwert sowie die damit verbundenen reizvollen Betätigungsmöglichkeiten nicht lange verborgen bleiben können…
Oder die kleine Charlotte, die ihr 1/8-Cello abwechselnd anlutschte und auf den Teppich schmiss (sie war wohl doch noch nicht im passenden Alter)… Rebekka, die vor einer Aufnahme vergaß, ihre zahlreichen Ohr- und Armringe abzulegen, so dass deren unaufhörliches Gebimmel dem ohnehin rustikalen „Haxntanz“ den ländlichen Zauber eines Almabtriebs verlieh… Von ihrer halb so großen Duopartnerin Shirin ließ sie sich gutmütig durchkitzeln und mit endlosen Plauderattacken bombardieren (einen besonders langen und wirren Vortrag über einen berühmten Dirigenten, hohe und tiefe Töne, einen das Klo reparierenden Hausmeister und ein Magen-Darm-Medikament namens „Multizipatorin“ schrieb sie sogar auf, um ihn für die Nachwelt zu erhalten…)
Und die tüchtige und großzügige Grete, die mir nicht nur die wertvolle (weil seltene) Tanja Tütü schenkte, sondern es auch noch schaffte, das kleine, sternförmige Podest wiederzufinden, in das man Tanjas spitzes Tänzerinnenfüßchen steckt, damit die Figur stehen kann (es war im Zimmer ihrer kleinen Schwester, wohin diese es verschleppt hatte). Ohne dieses Podest hätte es das „Strandballett“ nie gegeben…
Und dann war da noch Peter, der, obgleich jung an Jahren (er ging in den Kindergarten), schon alles wusste und kannte. Sein unermüdlicher Tatendrang hinterließ bei mir und meiner Wohnung bleibende Eindrücke: Als ich einmal nicht schnell genug an der Eingangstür war, versuchte er, diese einzutreten, ein anderes Mal hielt er ein brennendes Feuerzeug an meine Kommode. Der glänzende, bis dahin unbeschädigte Fuß der Edelstahl-Stehlampe schien ihm ein geeignetes Ziel für einen Angriff mit dem Cellostachel zu sein, so dass die Lampe nun allzu früh etwas besitzt, was manche Leute „Patina“ nennen (ich nenne es „Rost“). Aber sonst war er ein ganz reizender Junge und ein guter Cellospieler. Eines Tages überreichte er mir mit charmantem Lächeln einige Rosen, die er im Vorbeigehen bei (meinen) Nachbarn geklaut hatte… Für seine tadellosen Ansagen zu den „Liedern der Ju-Li-Prachtenten“ bekam er einen echten Silberlöffel…

All diesen kleinen und großen ehemaligen Schülern wünsche ich viel Glück und Erfolg in ihrem Leben, und dass sie sich gern an ihre gemeinsame Cellozeit erinnern. Nach wie vor glaube ich, dass das Zusammenspiel untereinander (lieber als mit Klavier, das ja eher unser natürlicher Feind als ein Partner ist) für die musikalische Entwicklung der Schüler förderlich ist, von den geschlossenen Freundschaften ganz zu schweigen. Es kostet zwar etwas mehr Mühe, und manchmal fühlt man sich wie ein Raubtierdompteur, unter lauten kleinen, wieselflinken, leicht reiz- und ablenkbaren, murrenden und knurrenden Cellotigern, die oft lieber faul auf ihren Podesten sitzen bleiben und die Zähne zeigen, statt durch den Reifen zu springen… hier könnten der Lehrperson wohl die Fähigkeit zur schneidigen Ansprache und eine gewisse Peitschenknall-Mentalität von Nutzen sein – Eigenschaften, die ich überhaupt nicht besitze…
Aber es geht zur Not auch ohne das, und schließlich können ja auch im Einzelunterricht unerwartete Hindernisse auftauchen: Unvergessen bleibt Vickys rätselhafter Ausspruch, als ich ihr die wichtige Rolle der linken Hand beim Saitenwechsel nahebringen wollte. Sie hörte meinem pädagogisch durchdachten Vortrag aufmerksam zu, sah mich dann vorwurfsvoll an und sagte: „Aber du hast doch auch ein grünes T-Shirt!!“ Ähnlich unerwartet reagierte ein kleiner, frecher Junge, der noch in den Kindergarten ging (ich nenne jetzt keinen Namen), in seiner ersten Cellostunde auf alle meine Bemühungen. Lässig auf seinem winzigen Stühlchen herumlümmelnd und dreist zu mir emporblinzelnd, gab er zum Besten: „Das ist ja gar kein richtiger Cellounterricht!“ (Wie früher erwähnt, konnte er das alles schon bestens beurteilen…) Beide Schüler erreichten mit ihren erstaunlichen Äußerungen, dass wenigstens für einige Augenblicke wohltuende Ruhe herrschte – die Lehrerin war sprachlos…
Trotz aller Turbulenzen und Niederlagen lohnt es sich aber, die Geduld zu bewahren, denn am Ende haben die Schüler doch etwas gelernt. Wir spielen ein anspruchsvolles Instrument, und die Zeit zwischen der 1.Cellostunde und der 1.Bachsuite ist lang – bevor man mit der richtigen Celloliteratur anfangen kann, muss man viel Technik lernen. Da kann Musik nicht schaden – je mehr, desto besser.
In diesem Sinne (und mit einem kräftigen „Allez hopp!“) wünsche ich viel Vergnügen beim Spielen meiner Stücke – viel Freude und, mit dem wundersamen Wort einer kleinen Schülerin, „Frohsinnsglück“.